Verzerrung
Befüllt man ein Glas mit Wasser bis zum Rand und gießt Tropfen für Tropfen weiter Wasser dazu, so erhöht sich der Druck des Wassers im Glas. Gießt man immer weiter Wasser dazu, dann spannt sich die Wasseroberfläche, bis sie allmählich eine Wölbung bildet und das Glas überzulaufen droht. Fügt man weiterhin Wasser hinzu, hält die Oberflächenspannung nicht mehr und das Wasser läuft über. Statt der Wölbung schließt das Wasser nun mit dem Glasrand ab.
Dieses Bild lässt sich auf künstlich erzeugte Verzerrungseffekte übertragen. Kann ein Gerät die hohe Amplitude eines Eingangssignals nicht verarbeiten, so werden die Pegelspitzen abgerundet oder abgeschnitten, was zu erwünschten oder unerwünschten Verzerrungseffekten führen kann. Diesen Vorgang nennt man auch „Clipping“. Hierbei unterscheidet man vorwiegend zwischen „Soft-Clipping“ und „Hard-Clipping“. Analog zum Bild des langsam überlaufenden Wasserglases, ist die gewölbte Oberflächenspannung des Wassers dem „Soft-Clipping“ ähnlich. Analoges Equipment, das bspw. mit Röhren betrieben wird, schneidet jene Pegelspitzen, deren Amplitude zu hoch ist, nicht hart ab, sondern rundet diese ab und erzeugt eine leicht gewölbte Wellenform an den Pegelspitzen. Demgegenüber tendieren bspw. digitale Geräte die Pegelspitzen hart abzuschneiden und erzeugen so ein „Hard-Clipping“ – um bei unserem Bild zu bleiben, eine glatte Wasseroberfläche.
Selbstverständlich haben sich im Laufe der Geschichte der populären und produzierten Musik unzählige Methoden und Techniken zur Erzeugung von Verzerrungseffekten herausgebildet. Zumal eine Vielzahl an Genres wie u.a. Blues, Rock’n’Roll, Punk, Metal, Hard-Techno, Hardcore und alle Genres-Mixe dazwischen ohne Verzerrungseffekte nicht denkbar wäre. Deswegen soll hier nur auf eine Hand voll ausgewählter historisch relevanter Effekte und Methoden hingewiesen werden.
Eine Methode zur Erzeugung des Verzerrungseffektes, die sich spätestens ab den 1930er- bis 1940er-Jahre durchgesetzt hat, beruht auf dem Übersteuern der Gitarren-Pick-Ups und des Gitarrenverstärkers. Beispielhaft hierfür steht das Gitarrenspiel von Charlie Christian auf „Charlie Christian with the Benny Goodman Sextet and Orchestra“ (Columbia 1955). Neben musikästhetischen Funktionen wurde mit der Verzerrung jedoch auch ein pragmatischer Zweck erfüllt. Damit das Gitarrenspiel nicht im Klang des Benny Goodman Orchestra unterging, war Charlie Christian mehr oder minder gezwungen, die Lautstärke des Gitarrenverstärkers derart hochzudrehen, dass auftretende nicht-lineare Verzerrungen unausweichlich waren.
Interessant im Zusammenhang mit verzerrten Klängen ist abermals, dass scheinbare Defekte interessante Resultate hervorbringen. Eine Anekdote besagt, dass der Gitarrist Grady Martin 1960 bei den Aufnahmen zu „Don’t worry“ (Columbia 1961) von Marty Robbins einen defekten Vorverstärker (Pre-Amp) verwendet hat, der für einen warmen, kratzigen und damals neuartigen Gitarrenklang gesorgt hat. Denselben defekten Pre-Amp hat Grady Martin dann ein Jahr später auf einem Instrumental wieder verwendet und den Song „The Fuzz“ (Decca 1961) genannt. Der Fuzz-Sound ist damit seit den frühen 1960er-Jahren gefragt, was dazu führte, dass die Firma Gibson, die damals eigentlich nur Gitarren und Gitarrenverstärker herstellte, 1962 unter dem Markennamen „Maestro“ den „Maestro FZ-1 Fuzz-Tone“ auf den Markt brachte. Immense Popularität erreichte das Effektpedal dann mit dem 1965 veröffentlichen Song „Satisfaction“ (London/Decca 1965) von The Rolling Stones.
Seit dem „FZ-1 Fuzz-Tone“ haben eine Unmenge an Gitarreneffektpedalen, Software-PlugIns, Studiogeräten und vieles weitere ihren Weg auf den Musikmarkt und die Musikproduktionen gefunden, die sich explizit der Erzeugung von Verzerrungen widmen. In vielen Fällen wird hierbei zwischen Overdrive, Distortion und Fuzz unterschieden. Overdrive erzeugt in der Regel ein Soft-Clipping und eine relativ geringe Verzerrung, wohingegen Distortion als starke Verzerrung durch auftretendes Hard-Clipping wahrgenommen wird. Fuzz wird dann als stärkste Verzerrungsstufe wahrgenommen. Hierbei können zum Teil Synthesizer-ähnliche Sägezahnwellen entstehen. Die Grenzen zwischen den drei Effekten sind fließend und werden in Gitarrenkulturen heiß diskutiert.
- Hodgson, Jay. Understanding Records. A Field Guide to Recording Practice. New York: Continuum 2019.
- Moore, Allan F. und Paul Carr. The Bloomsbury Handbook of Rock Music Research. New York: Bloomsbury 2020.
- Moore, Allan F. Rock: The Primary Text. Developing a Musicology of Rock. Milton: Routledge 2001.
- Zak, Albin J. The Poetics of Rock. Berkeley: University of California Press 2001.
- “Don’t Worry” – Marty Robbins (Columbia 1961)
- “Sunshine Of Your Love” – Cream (Polydor 1967)
- “I Am The Walrus” – The Beatles (Parlophone/Capitol 1967)
- “Paranoid” – Black Sabbath (Vertigo 1970)“Lithium” – Nirvana (DGC 1991)
- “Shut Up And Drive” – Rhianna (SRP 2007)
- “Loose Change” – Royal Blood (Warner 2014)
- “10 d E A T h b R E a s T ⚄ ⚄“ – Bon Iver (Jagjaguwar 2016)
- “Daydream” – I Hate Models (ARTS 2016)
- “Rigid – Kobosil 44 Rush Mix” – Rosa Anschütz, Kobosil (R – Label Group 2019)
- “To the Hellfire” – Lorna Shore (Century Media 2021)
- “Iod” – FJØRT (Grand Hotel van Cleef 2022)
- “Softpower” – Bilderbuch (recordJet|Maschin 2023)